Panorama: Mercedes Actros SLT – Der Bulle von Benz

Von Siegen nach Bremen? Laut Navi sind das 361 Kilometer und wenn es dumm läuft, braucht man dafür vier Stunden. Doch wenn Jan Hoffmann diese Strecke abfährt, zeigt der Bordcomputer 980 Kilometer und der Mann kann froh sein, wenn er nach vier Tagen am Ziel ist. Denn der Mercedes-Fahrer sitzt nicht in einer A- oder E-Klasse, sondern am Steuer des neuen Schwerlasters Actros SLT – und sieht im Rückspiegel einen über 20 Meter langen Auflieger. Darunter sind acht Achsen und darauf ein über 100 Tonnen schwerer Spezialkran, der links und rechts fast einen halben Meter über den Rand der Ladeplattform ragt. Und genau das ist Hoffmanns Problem.

Denn wo man beim Auto oder jedem normalen Lastwagen einfach einsteigen und losfahren kann, gibt es für Schwertransporte wie diesen nicht nur monatelange Genehmigungsverfahren, sondern vor allem jede Menge Zeit- und noch mehr Strecken-Restriktionen, sagt Wolfgang Draaf vom Bundesverband Schwertransporte und Kranarbeiten: Im einen Bundesland darf man nur tagsüber, im anderen ausschließlich nachts fahren. Da haben die Brücken zu wenig Traglast oder sind zu marode, dort sind die Kurven zu eng. Diese Unterfahrung zu niedrig, jene Schlucht zu schmal. Und dann noch verwinkelte Kreuzungen und Kreisverkehre ohne Ende – so wird aus dem vermeintlichen Kurztrip nach Bremen ein Hindernisparcours, der erst nach Süden, dann nach Osten und erst am Schluss nach Nordwesten führt und den Trucker samt Begleitfahrzeugen eine Woche lang auf Trab hält.[foto id=“511981″ size=“small“ position=“right“]

Kein Wunder, dass sich Hoffmann, der im echten Leben Testfahrer bei der schweren Truppe von Mercedes ist und die Erprobung des neuen Schwerlasttransporters geleitet hat, so sehr am Luxus freut, der ihn der über zwei Meter hohen GigaSpace-Kabine des silbernen Riesen umgibt. „Das ist für unsere Kunden nicht nur Arbeitsplatz, sondern Lebensraum“, sagt er und lässt mit einer einladenden Geste den Arm kreisen: Zwei luftgefederte Sessel mit einem Ausblick wie in einer Penthouse-Wohnung, dahinter eine kuschelige Schlafkoje, Ablagen ohne Ende, Soundsystem, Klimaanlage, Kühlschrank und jede Menge Elektronik – hier kann man es schon mal ein paar Tage aushalten.

Dabei müsste Hoffmann sein Appartement eigentlich gar nicht mitschleppen. Rein theoretisch und auf dem direkten Weg, würde der Actros SLT die Strecke von Siegen nach Bremen in nicht einmal fünf Stunden schaffen. Denn Spezialkran hin, Windräder oder Transformatoren her – von so ein paar lächerlichen Lasten lässt sich der Laster nicht einbremsen. Schließlich ist der Actros 4163 Schwerlasttransporter, so die offizielle Bezeichnung für den Bullen von Benz, die stärkste Zugmaschine, die der Daimler zu bieten hat: Bis zu 250 Tonnen schleppt der Schwertransport weg, und wenn man drei dieser Kraftpakete per elektronischer Steuerung zusammenspannt, dürfen es sogar 750 Tonnens ein. Das wären dann zum Beispiel knapp 1000 Smart drei unbeladene Airbus A380 oder eine voll getankte Ariane 5-Rakete.

Möglich macht das ein Kraftwerk von Motor, der selbst den 16-Zylinder im Bugatti in den Schatten stellt. Zwar hat der OM 473 nur sechs Zylinder. Doch ihr Hubraum summiert sich auf 15,6 Liter. Und wo der Actros mit 625 PS schon in der Liga der meisten Supersportwagen mitfahren könnte, wird er mit einem maximalen Drehmoment von 3.000 Nm zum Spitzentrumpf im Autoquartett und stempelt jeden Porsche zum popeligen Kleinwagen. Dafür hat der Schwerlaster aber auch einen ordentlichen Durst: Die 30 Liter, die ein unbeladener Actros bei Tempo 80 auf der Autobahn braucht, mögen zumindest Sportwagenfahrer noch nicht irritieren. Doch wenn Daimlers dickstes Ding ordentlich zu schleppen hat, steigt der Verbrauch ins unermessliche. „Im Schnitt rechnen wir mit einem Liter pro Tonne“, sagt Testfahrer Hoffmann. Aber wenn hügelig wird und man viel rangieren muss, kommen auch schon mal 500 Liter auf 100 Kilometern zusammen. „Aber das interessiert in dieser Branche keinen. Hauptsache der Tank ist groß genug“, sagt der Experte und klopft auf das 900-Liter-Fass hinter der Kabine. „Denn selbst ein Tankstopp ist für einen Schwerlastkonvoi eine logistische Herausforderung.“[foto id=“511982″ size=“small“ position=“left“]

Zum bärenstarken Motor gibt es im Actros und seinem für den Baustellenverkehr gerüsteten Bruder Arocs besonders verstärkte Achsen, einen unverwüstlichen Rahmen aus Spezialstahl – und vor allem ein neues Getriebe: Als einziger Schwerlaster fährt der Mercedes mit einer Automatik vor, die 16 Schaltstufen hat und mit einer einzigartigen Kupplung kombiniert ist. Diese so genannte Turbo-Retarder-Kupplung arbeitet nicht nur absolut verschleißfrei. Sondern sie ist so feinfühlig, dass man selbst einen 250 Tonnen schweren Laster quasi mit den Zehenspitzen befehlen und allein mit dem Gaspedal dirigieren kann. Egal ob auf der Ebene oder am Hang kann man damit Millimeter für Millimeter im Kriechgang vor oder zurückrollen, ohne dass man Bremsen, schalten oder Kuppeln müsste. „Das hilft, wenn man mit so einer Fuhre durch eine verwinkelte Altstadt rangieren muss und ringsrum nur ein paar Zentimeter Luft sind“, erläutert Hoffmann den riesigen Aufwand für die Kupplung, die bei der normalen Actros-Flotte schlanke 20.000 Euro Aufpreis kostet – netto, natürlich. Wer für Preise um die 250.000 Euro den SLT bestellt, hat die Turbotechnik aber serienmäßig an Bord.

Wie leicht sich der Bulle von Benz mit dem dicken Brocken auf der Pritsche tatsächlich tut, demonstriert Hoffmann mit einem höflichen Rollentausch. Auf einem abgesperrten Gelände, wo niemand nach dem Führerschein fragt, die Straßen breit und der Gegenverkehr spärlich ist, lässt er den Laien an den Lenker: Zwei Meter über dem Boden thront man in einem luftgefederten Sessel, die C-Klasse der Begleitmannschaft draußen vor der Panorama-Scheibe sieht aus wie ein Spielzeug und obwohl Schalter und Instrumente teilweise ganz fremde Beschriftungen tragen, fühlt man sich im Cockpit irgendwie gleich zu Hause – nicht umsonst greifen die Truck-Entwickler bisweilen in den gleichen Teilekasten wie die Kollegen aus dem Pkw-Bereich.

Doch die meisten der vielen Schalter kann man ohnehin getrost ignorieren. Einfach Starttaste drücken, die Automatik auf D drehen, den großen, silbernen Handbremshebel lösen und Gas geben. Ab dann braucht man kaum mehr als den kleinen Finger am riesigen Lenkrad, einen schweren Fuß auf dem Pedal und das blinde Vertrauen in den Motor, der den Boden unter der Kabine bei jedem Gasstoß sanft erzittern lässt: Schon setzt sich der Koloss in Bewegung und macht nicht den Eindruck, dass er sich von irgendetwas stoppen ließe: 100 Tonnen am Haken und 20 Prozent Steigung vor der Nase – kein Problem: Langsam aber stetig kriecht der Koloss den Hügel hinauf und mit jedem Meter wächst der Stolz, den man am Lenkrad empfindet.[foto id=“511983″ size=“small“ position=“right“]

Anfahren am Berg, langsam rückwärts rollen und die Fuhre danach wieder einfangen, millimetergenaues Rangieren – all das ist mit der neuen Kupplung tatsächlich so einfach wie in einer S-Klasse mit Automatik. Nur wenn es Bergab geht und von hinten das Gewicht von zwei Diesellokomotiven schiebt, wird einem ein bisschen heiß unter dem Hemd und man will frühzeitig an Retarder-Hebel für die Motorbremse ziehen. Zwar würden auch die normalen Radbremsen  den Riesen in den Stand zwingen. Doch wer das zwei-, dreimal macht, der kann gleich Beläge und Scheiben wechseln – was bei bald einem Dutzend Achsen ein ziemlich teures Vergnügen ist.

Aber es braucht nur ein paar Kilometer, ein bisschen Mut und einen guten Instruktor, und mal fühlt sich am Steuer des Schwerlasters so heimisch, dass man eigentlich gar nicht mehr aussteigen und liebsten gleich nach Bremen durchstarten möchte. Und zwar nicht auf der Navi-Route, sondern gerne auf den 980 Kilometern. Wenn dafür bitte nur jemand den Kühlschrank unter dem Bett füllen und mal eben für vier Tage den Gegenverkehr anhalten könnte.

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