Glosse: Der Winter und die heroische Ignoranz

Jochen Mass, Rennfahrer-Legende und führender Kopf in der weltweiten Oldtimer-Szene, wird sich in Zukunft von seinem Domizil in Frankreich aus mit Gedanken zur Zeit, zum Auto an sich oder zum Motorsport mit neuen und alten Autos bei uns als Autor melden. Heute beschäftigt ihn unser Verhältnis zum Winter.

Eigentlich sind wir ja noch mitten im Winter. Aber kaum ist ein Sonnenstrahl im Gesicht zu spüren, läuten im Kopf die Frühlingsglocken. Solcher Optimismus ist an sich ja nicht verwerflich, aber er zeigt, wie sehr der Gedanke an den spontanen Genuss in uns die Oberhand gewinnt: jetzt sofort, nicht erst in einigen Wochen, man weiß ja gar nicht was später kommt. Gelassenheit, Geduld und der Mut zum Warten, die wunderbare Vorfreude auf das, was in einigen Wochen vielleicht sein wird – sie sind uns verloren gegangen.

Dabei haben doch die Jahreszeiten schon immer, auch mit ihren gelegentlichen Härten, einen besonderen Reiz besessen, besonders für uns als Kinder. Mutter fuhr, Papa lief vor dem Auto her, um Mama die Ausfahrt der Autobahn anzuzeigen. So geschehen im Winter auf der Autobahn bei Kaiserslautern in Richtung Ludwigshafen. Es lag Schnee; es herrschte dicker Nebel, und ich konnte das Adrenalin meiner Mutter in ihren roten Ohren pulsieren sehen. Nun, es ging alles gut aus, wir fanden heim und die Eltern den Eierlikör.

Sicher nicht das beste Beispiel, um eine solche Jahreszeit wie den Winter schön zu reden. Ginge ja heute auch gar nicht mehr, bei dem Mörderverkehr, bei dem viele unserer Verkehrskollegen sich durch einen gnadenlosen Egoismus und durch neue Bestzeiten für den Heimweg vor der Jugend auszeichnen wollen – von wegen positive Signale für den Nachwuchs.

Die Gefahr der heutigen Winter, die Unberechenbarkeit der Situationen wird als schicksalhaft empfunden. Man ist ja nur noch Opfer des Geschehens. Auf allen Vieren zum Auto robben, endlich drin, der Eisregen spielt sich ja draußen ab, [foto id=“344437″ size=“small“ position=“left“]und los geht‘s, bis zur nächsten Litfasssäule oder ähnlich hartem.

Liegen wir mit einer Grippe in der Koje, denken wir anders über unsere Geschäfte, die vor der Krankheit scheinbar keinen Aufschub duldeten. Die gigantischen Versicherungsschäden sprechen eine deutliche Sprache zu uns allen, denen die regelmäßigen Beitragserhöhungen ins Haus flattern. Video-Konferenzen, Konferenz-Anrufe, wo sind sie denn in solchen Zeiten? Wenn gestreikt wird, ruht die Arbeitswelt auch, ohne auseinander zu fallen. Doch wir üben uns in Ungeduld, sobald wir wieder gesund sind.

Ich verdamme nichts, ich wundere mich nur über unsere Einfalt, mit der wir das Risiko auf uns nehmen, wo es doch beschaulicher zugehen könnte und wahrscheinlich auch sollte. Jetzt haben wir die wunderbarsten Autos mit den kleversten elektronischen Hilfen, die man sich wünschen kann, zehnmal klüger als die Fahrer. Und was tun wir? Wir überlisten sie durch geballte heroische Ignoranz.

Aber noch ist der Glaube an klügere Verkehrsteilnehmer nicht erloschen. Die Elektronik wird es schaffen!

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