Mario Theissen: Verbessern kann man sich immer und überall

(adrivo.com) In einem Interview von BMW spricht Sportdirektor Mario Theissen über das zurückliegende Jahr und die kommenden Herausforderungen.

Wie lautet Ihr Fazit der zweiten Saison des BMW Sauber F1 Teams?
Mario Theissen: Es war eine starke Saison, an deren Ende wir sogar noch die 100-Punkte-Marke geknackt haben. Wir sind von WM-Platz fünf in die Saison gegangen, mit 36 WM-Zählern aus unserem Debütjahr. Platz vier mit deutlich mehr Punkten war Pflicht, Platz drei die Kür. Am Grünen Tisch haben wir sogar Platz zwei zugesprochen bekommen. Doch das bedeutet uns nicht wirklich etwas. Denn wir wissen: Es sind noch vier Autos schneller als wir, und die wollen wir auf der Strecke schlagen. Es war überraschend, dass wir uns von Anfang an als dritte Kraft präsentiert haben und diese Position praktisch in jedem Rennen unter Beweis stellen konnten. Gelegentlich ist es uns gelungen, in die Phalanx der beiden Top-Teams einzubrechen, und so haben wir auch die angestrebten Podiumsplätze aus eigener Kraft erzielt. Fazit: Wir können stolz auf das Erreichte sein – sowohl was die Entwicklung über den Winter als auch was das Entwicklungstempo während der Saison angeht. Wir haben es in den beiden Aufbaujahren jeweils geschafft, unsere Ziele zu erreichen. Die Ingenieure sehen also: Unsere Ideen schlagen an. Das schafft Vertrauen in die eigene Strategie. Sie können ableiten: Der Weg, den wir gehen, ist richtig.

Was waren für Sie Höhepunkte 2007?
Mario Theissen: Das war eindeutig das Rennen in Montréal. Dort hat Nick mit Platz zwei das bisher beste Resultat für unser Team eingefahren. Dass Robert seinen Unfall praktisch unverletzt überstanden hat, war auch ein Beleg für die Stabilität und hervorragende Bauweise des Autos. Insofern war dieses Wochenende für uns ein gefühlter Doppelsieg…

Gab es auch Tiefs?
Mario Theissen: Ja, die gab es auch. Allen voran der Schreck, der uns bei Roberts Unfall in Montréal in die Glieder gefahren ist. Die Minuten bis zur erlösenden Nachricht, dass er praktisch unverletzt war, waren quälend. Andere, weniger dramatische Tiefpunkte waren die Ausfälle wegen technischer Defekte. So etwas wird sich nie ganz ausschließen lassen, aber eine Nullrunde eines Fahrers am Sonntag schmerzt das ganze Team, weil der Lohn des Arbeitseinsatzes ausbleibt. Immerhin haben wir in jedem Rennen gepunktet und sind daher an keinem der 17 Rennwochenenden leer ausgegangen…

Wo lagen die größten Fortschritte gegenüber 2006?
Mario Theissen: 2006 hatten wir noch eine Schwäche auf langsamen Strecken, 2007 war dies nicht mehr der Fall.

Waren Sie mit den Leistungen Ihrer Fahrer zufrieden?
Mario Theissen: Ja, Nick und Robert haben auf und neben der Rennstrecke überzeugt. Deshalb werden wir auch mit beiden weiterfahren. Wir waren uns schon sehr früh in der Saison darüber einig. Roberts Vertrag haben wir nach seinem schweren Unfall in Kanada verlängert. noch ehe er wieder im Auto saß. Und auch mit Nick waren wir früh auf einer Linie, sodass wir die Vertragsformalitäten gelassen im Laufe der Saison erledigen konnten.

In welchen Bereichen fehlt noch am meisten zur Spitze?
. Das größte Potenzial steckt eindeutig in der Aerodynamik. Es geht nicht darum, 2008 eine spezielle Schwäche zu eliminieren, sondern darum, die drei bis fünf Prozent in allen Bereichen zu finden, die noch zur Spitze fehlen. Das ist der Feinschliff. also eher Evolution als Revolution.

Ist die Aufbauphase des Teams mittlerweile abgeschlossen?
Mario Theissen: Das wird wie geplant zum Jahreswechsel der Fall sein. Wir haben mittlerweile 420 Mitarbeiter in Hinwil an Bord, in München sind es unverändert knapp 300. Der Bezug des Erweiterungsbaus in Hinwil ist in vollem Gange.

War der weitere Ausbau des Teams noch eine Belastung?
Mario Theissen: Als wir die Mehrheitsanteile an Sauber übernommen haben, waren in Hinwil 275 Mitarbeiter beschäftigt. Es war ein Kraftakt, die neuen Kollegen während der laufenden Saison und der Entwicklung des nächstjährigen Autos ins Team zu integrieren. Außerdem ist es für alle angenehmer, nicht in einem provisorischen Container zu arbeiten, sondern in einem permanenten Büro.

Inwieweit sind Sie noch direkt in die technische Entwicklung involviert?
Mario Theissen: Ich informiere mich in regelmäßigen Abständen über alle Entwicklungsvorgänge. Wir haben Regelbesprechungen, ich gehe aber auch zu den Ingenieuren an den Arbeitsplatz. Die Entscheidung, welchen Weg wir in der Entwicklung gehen, wird von Willy Rampf und Markus Duesmann getroffen. Stehen wir an einer Weggabelung ohne Hinweisschild, werde ich in die Entscheidung einbezogen. Ich sehe mich in erster Linie als Coach, der Ziele definiert, Voraussetzungen schafft und Orientierung gibt.

Ab wann haben sich die Techniker mit dem Fahrzeug für 2008 befasst?
Mario Theissen: Die Konzeption begann im Mai 2007. Wir hatten zur Saisonmitte bereits den dritten Platz in der Konstrukteurs-WM zementiert. Die beiden Teams vor uns in den Punkten einzuholen, war unrealistisch, und nach hinten war viel Luft. Also konnten wir frühzeitig den Entwicklungsschwerpunkt auf 2008 legen. Beim Jerez-Test Mitte September haben wir die Weiterentwicklung am F1.07 komplett abgeschlossen und den Schalter auf 2008 umgelegt.

BMW gilt als führend im Bereich Elektronik. Stört Sie die Einführung der Einheits-ECU?
Mario Theissen: Wir haben uns in der Tat gegen die Standardelektronik ausgesprochen. Die Umrüstung von Fahrzeugen, Motoren und Getrieben, aber auch der Prüfstände, hat erhebliche Mehrkosten ausgelöst. Schaut man in die Zukunft, gibt es allerdings noch ein wichtigeres Gegenargument: Nicht nur das Auto, sondern jedes technische Gerät ist heute mit einer komplexen und auf den jeweiligen Funktionsumfang maßgeschneiderten Steuerelektronik ausgestattet. Die Elektronik ist das Nervensystem, ohne das das Gerät gar nicht oder nur eingeschränkt funktioniert. Wir wollen die Formel 1 zum Pionier für Antriebstechnologien von künftigen Serienfahrzeugen machen. Konkret wird für die weitere Zukunft ein System entwickelt, das beim Bremsen Energie rückgewinnt, diese speichert und beim Beschleunigen parallel zum Verbrennungsmotor wieder zuführt. Nur eine sehr feinfühlige Steuerelektronik kann diese Eingriffe sauber aufeinander abstimmen, die Fahrsicherheit unter allen Umständen gewährleisten. Wenn wir also das Potenzial dieses Systems wirklich erschließen wollen, gehört eine maßgeschneiderte Elektronik einfach dazu.

Die erfolgreiche Saison 2007 erhöht den Erwartungsdruck für 2008. wie gehen Sie damit um?
Mario Theissen: Natürlich wachsen die Erwartungen mit jedem Erfolg, den man erreicht. Das ist allerdings nicht nur ein Druck von außen, sondern vor allem unser eigener Anspruch im Team. Wir schließen mit dieser Saison die Aufbauphase des BMW Sauber F1 Teams ab. Diese Phase ist wie geplant gelaufen und hat uns in kurzer Zeit in die Top 3 geführt. Im nächsten Jahr wollen wir das erste Rennen gewinnen. Dass dies nicht von selbst passiert, wissen wir. Die großen Fortschritte vor allem in diesem Jahr zeigen uns, dass Entwicklungsrichtung und Arbeitsweise stimmen. Entsprechend hoch ist die Motivation. Im kommenden Jahr finden 18 Rennen statt, eines mehr als in dieser Saison.

In Zukunft können es 20 Grands Prix sein. Was halten Sie von diesem Vorhaben?
Mario Theissen: 20 Rennen ist eine hohe Zahl, die das ganze Team, insbesondere die Mitarbeiter an den Renn- und Teststrecken, die sehr viel unterwegs sind – entsprechend belastet. Aber wir könnten damit leben. Schließlich betreiben wir einen großen Aufwand, um Formel-1-Rennen zu fahren. Und wenn wir wirklich zwei Rennen mehr fahren sollten, hieße das für uns auch: Der Aufwand wird effizienter genutzt. Doch gilt es zu überlegen, wie ein derartiges Mammut-Programm bewältigt und der komplette Reisekalender logistisch sinnvoll aufgestellt werden kann.

Wie wünschen Sie sich den Formel-1-Kalender der Zukunft?
Mario Theissen: Es sollte eine Mischung aus Tradition und Moderne sein. Fakt ist: Die Formel 1 braucht immer einen europäischen Kern mit den Traditionsrennstrecken wie beispielsweise Monza, Silverstone, Spa oder dem Nürburgring. Das ist auch nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Aber man muss sich auch fragen: Wo liegen die Chancen für die Formel 1? Und die liegen nun einmal in den neuen Märkten, die sich besonders schnell entwickeln, natürlich vorrangig in Asien. Dort schlummert ein immenses Potenzial. Wenn sich die Formel 1 dort etablieren kann, sichert dies den Stellenwert der Königsklasse für die Zukunft ab.

Wer wird Ihr Testfahrer in der Saison 2008?
Mario Theissen: Wir werden jungen Fahrern in Kürze Testchancen geben und uns dann entscheiden. Timo Glock fährt im kommenden Jahr jedenfalls nicht mehr für das BMW Sauber F1 Team. Wir haben ihm ein Angebot als Testfahrer gemacht, aber er hat die Chance auf ein Renncockpit bei einem Mitbewerber erhalten. Wir wünschen Timo für seine Zukunft in der Formel 1 viel Erfolg. Er ist einer der viel versprechenden Fahrer, die aus der Formel BMW kommen und eine gute Perspektive für die Zukunft haben. Wir trauen ihm zu, sich in der Formel 1 zu etablieren. Ich will nicht ausschließen, dass wir auch in Zukunft wieder zusammen arbeiten.

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