Stumme Zeugen des Verfalls: Wie die Autostadt Detroit stirbt

Die North American Auto Show (NAIS) in Detroit ist zu Ende gegangen. Jetzt, da das letzte Showcar verstaut, das letzte Spotlight erloschen ist, zieht die Blechkarawane weiter. Dann bleibt Detroit das, was es das ganze messefreie Jahr über ist: Eine ehemals stolze Autostadt, die still und leise vor die Hunde geht. Das war mal anders.

Wie kaum ein anderer Industriestandort in den Staaten verkörpert Detroit den Niedergang der US-Autoindustrie, einst ganzer Stolz und PS-starkes Zugpferd der amerikanischen Wirtschaft. Nur wenige Schritte vom Messe Center in der Cobo Hall am Detroit River entfernt, zeigt sich ein anderes, ein schockierendes Bild. Das des Niedergangs des Geburtsorts der amerikanischen Automobilindustrie, deren Aufstieg mit der Massenfertigung von Henry Fords „T Modell“ im Jahre 1909 hier begann.

Heute bietet Detroit, von seinen Bewohnern liebevoll „MoTown“ (ein Blendwort aus „Motor“ und Town“) getauft, abseits des glamourösen Messetreibens ein Bild des Jammers. Die ehemals glanzvolle Industriestadt stirbt – jeden Tag ein Stückchen mehr. Schuld daran: Die Produktionskrise der US-amerikanischen Automobilindustrie, die in den 70er Jahren mit der Ölkrise ihren Anfang nahm. Schluckfreudige Straßenkreuzer „made in USA“ waren über Nacht nicht mehr gefragt. Die neue Konkurrenz aus Japan, die in den 80er Jahren den US-amerikanischen Inlandsmarkt überschwemmte, bedeutete den finalen K.O.-Schlag.

Eine Entwicklung mit fatalen Folgen – für die gesamte US-Wirtschaft und die, die sie einmal ernährt hat. Facharbeiter, die jahrzehntelang ein gutes Auskommen an den Produktionsstraßen in den örtlichen Fertigungshallen von GM, Chrysler, Ford und Co. hatten, müssen nun mit ansehen, wie ihre einstmals so stolze Heimatstadt Jahr für Jahr ein Stück weiter vor die Hunde geht. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt liegt bei 22 Prozent. Arbeitslosengeld, Krankenversicherung und staatliche „Stütze“ sind in den USA unbekannt. Wer irgendwie kann, setzt sich ab – in die neuen Industriestandorten an der Ostküste oder anderswo in den USA.Einer von denen, die Michigan nicht den Rücken kehren, ist David Kohrman.

Im Gegenteil: Der Doktorand an der Western Michigan University, den es 1998 aus dem nahegelegenen Kalamazoo zum Studium hierher verschlagen hat, zieht es immer wieder zurück ins Zentrum der vormals unbegrenzten automobilen Möglichkeiten. Kohrman kennt die Industrieruinen Detroits wie seine Westentasche. Der 31-Jährige, der nach eigener Aussage schon immer ein „natürliches Interesse an alten Gebäuden“ besaß, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Verfall mit seiner Kamera fotografisch festzuhalten. Als er hörte, dass der Abriss des berühmten Kaufhauses „J.L. Hudson Department Store“, einst das architektonisches Wahrzeichen der Stadt, diskutiert und im Herbst 1998 tatsächlich vollzogen wurde, war das für ihn „ein echter Schock“ – und der Beginn einer echten Lebensaufgabe.

Tag und Nacht ist Kohrman in den Industrieruinen mit seiner Kamera unterwegs gewesen. Anfangs tat er das in der Hoffnung, seine Mitbürger „wachzurütteln“, wie er sagt. Sie dazu zu bewegen, die ehemaligen Zentren der Industrie als das zu begreifen, was sie in seinen Augen bis heute sind: Schützenswerte Baudenkmäler, Zeugnisse einer vergangenen Industrie-Epoche, „die sich nicht einfach so entsorgen lassen, als wären sie Abfall“. Das Ergebnis seiner Arbeit: Betörend bedrückende Fotografien, Momentaufnahmen des Untergangs der einstigen Herzens der US-Autoindustrie, zu sehen im Internet unter www.forgottendetroit.com.

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Schonungslos und zugleich fast zärtlich zeigen seine Bilder, was die Stadtflucht von „MoTown“ übrig lässt: Kathedralenartige Montagehallen, die aussehen, als wären sie gerade erst verlassen worden. Verwaiste Produktionsanlagen, fensterlose Industrie-Fassaden, an denen der Zahn der Zeit nicht nur nagt, sondern unerbittlich frisst. Aber der allgegenwärtige Verfall beschränkt sich nicht auf die Verwaltungsgebäude und Hallen aus der Gründerzeit. Ganze Straßenzüge sind mittlerweile ausgestorben. „Downsizing“ ist daher nicht nur unter den Autoherstellern das Gebot der Stunde, die sich dieser tollen Messetage mit Glanz und Glamour gekonnt in Szene gesetzt hat.

Auch Detroits Stadtväter setzen auf das Prinzip der „Verkleinerung“. Sie geben sich alle Mühe, das städtische Leben auf die Kernbezirke zu konzentrieren. So soll die verbleibenden Bevölkerung wenigstens mit dem Allernötigsten wie Strom, Gas, fließend Wasser, Polizei und Rettungsdiensten versorgt werden. Verkleinerung ist auch dringend nötig, denn ein funktionierendes Bus- und Metronetz hat es in den vom Automobil geprägten Außenbezirken Detroits noch nie gegeben. Stattdessen ist die Stadt unkontrolliert in die Breite gewachsen. Heute nimmt sie eine Fläche von 370 Quadratkilometern ein – zumindest auf dem Papier. Doch viele Ecken sind inzwischen unbewohnt. Im Zentrum trifft man ab 21 Uhr so gut wie keine Menschenseele mehr. Wenn, dann sind es Fußgänger, überwiegend schwarzer Hautfarbe, die auf den verwaisten Asphaltadern der einst so stolzen Autostadt spazieren gehen.

Wer kann, sucht das Weite. Der soziale Niedergang, der Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen Absturz der vergangenen Jahrzehnte geht, ist allgegenwärtig – und treibt mittlerweile bizarre Blüten: Rund 70 unidentifizierte Körper lagern laut dem örtlichen ARD-Korrespondenten in den Kellern des städtischen Leichenschauhauses. Der Grund ist, dass sich viele Bürger die für ein Sozialbegräbnis fälligen 500 Dollar nicht länger leisten können. Sie wissen sich nicht anders zu helfen, als die Leichen ihrer Angehörigen auf der Straße zu deponieren, um nicht zu sagen: sie zu entsorgen.

Auch eine Art „Verfall-Tourismus“ hat sich breit gemacht. Es gibt organisierte Stadtführungen, die Touristen auf den Spuren der sterbenden Autoindustrie wandeln lassen. Auch David Kohrman stellt fest, dass mit dem Interesse an den Bauruinen auch der Vandalismus „dramatisch zugenommen hat“. Wie aber will man einer dem Untergang geweihten Industriestadt wieder Leben einhauchen? Eine Maßnahme zur „Wiederbelebung“ könnte die Auto Show sein, die wenigstens einmal im Jahr Autoenthusiasten aus aller Welt anzieht, den Bewohnern für knapp zwei Wochen ein paar Jobs verschafft und ihnen so wenigstens einen Pick up-Truck voll Hoffnung gibt. Viel mehr als ein Strohhalm ist das nicht. Aber: Viel mehr bleibt „MoTown“ Detroit auch nicht. Der einst so stolzen Ex-Autostadt, die jeden Tag ein Stückchen weiter stirbt.

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