Was die Unfallstatistik verschweigt – Zwischen Hals- und Beinbruch

Es könnte kaum besser laufen, so scheint es jedenfalls: Seit rund zwanzig Jahren vermeldet die Unfallstatistik stoisch, dass die Verkehrslage immer sicherer wird. 2012 starben auf den Straßen so wenige Menschen wie noch nie, die Zahl der Verletzten ging ebenfalls zurück. Doch während der normale Mensch diese Zahlen als unumstößliche Wahrheit akzeptiert, wird hinter den Kulissen seit Jahren diskutiert und geforscht. Vor allem das Stichwort Schwerverletzte ist der Knackpunkt – dahinter kann sich eine vergleichsweise harmlose Blessur ebenso wie eine lebensverändernde Katastrophe verbergen.

Drei Unfälle, drei Verletzte: Ein Autofahrer prallt gegen einen Baum. Diagnose Schädelbruch, ein Bein ist so stark geschädigt, dass es amputiert werden muss. Bei einem anderen Unfallopfer stellen die Ärzte eine leichte Gehirnerschütterung fest, behalten den Mann zur Beobachtung über Nacht im Krankenhaus. Dritter Fall ist eine alleinstehende ältere Dame. Sie legte beim Ausparken versehentlich den falschen Gang ein, prallte gegen ein anderes Auto und brach sich dabei das Handgelenk – weil sie mit der kaputten Hand ziemlich hilflos ist, wird sie erstmal stationär aufgenommen.
 
Die Unfallstatistik unterscheidet zwischen Schwer- und Leichtverletzten. Welche der genannten Verletzungen aber ist leicht und welche schwer? Der Mann mit der Gehirnerschütterung verlässt am nächsten Tag fröhlich pfeifend das Krankenhaus, die Frau mit der gebrochen Hand muss vorübergehend mit eingeschränkter Beweglichkeit leben, ist aber ansonsten topfit. Dem Fahrer mit dem Schädelbruch und dem amputierten Bein dagegen geht es richtig mies.
 
Der Unfallstatistik sind diese Unterschiede vollkommen egal: Sie stuft alle drei Fälle als schwere Verletzung ein. Denn: „Schwer verletzt ist für die Statistik jeder Mensch, der nach einem Verkehrsunfall mindestens 24 Stunden in einem Krankenhaus verbringt“, sagt der Unfallchirurg und -forscher Uli Schmucker von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU).

Für Experten ist das untragbar

So wie die aktuellen Zählungen funktionieren, verschleiern sie, wie hoch die Zahl derjenigen ist, die es bei Verkehrsunfällen wirklich arg erwischt – so schlimm, dass sie sich entweder nur langsam oder nie mehr von den Folgen erholen. Derzeit sind sich die Fachleute noch nicht einmal einig, wie sie diese Unfallopfer bezeichnen sollen: Die einen sprechen von Schwerstverletzten, die anderen nennen sie wegen der besseren Abgrenzung lebensbedrohlich Verletzte.
 
Einig ist man sich darin, dass es diese Gruppe gibt – und dass sie gar nicht so klein ist, wie mancher in Hinblick auf Airbags und Fahrassistenzsysteme hoffen mag. An diesem Punkt taucht allerdings das nächste Problem auf: Wichtig wäre eine Methode zur Untersuchung und Einordnung solcher Fälle. Tatsächlich gibt es entsprechende Methoden bereits – nur gehen die unterschiedlich an die Sache heran. Da wäre der Injury Severity Score (ISS), eine anatomische Tabelle zur Einordnung der Schwere von Verletzungen. ISS umfasst Stufen von 0 bis 75 und gilt daher als etwas kompliziert. Als Alternative steht eine vereinfachte Verletzungsskala zur Verfügung, die Abbreviated Injury Scale (AIS). Zwei Methoden scheinen aber nicht genug zu sein – daher gibt es auch noch den „maximalen AIS“, kurz MAIS, und weitere Verfahren zur Einordnung der Verletzungsschwere. Jede Zählweise führt zu unterschiedlichen Ergebnissen.
 
Trotzdem gab es immer wieder Wissenschaftler, die sich von den Unterschieden der Skalen nicht irritieren ließen, und die den wahren Zahlen auf die Spur kommen wollten. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat das Unfallgeschehen der Jahre 1997 bis 2006 untersucht und sich dabei der Zahlen des Traumaregisters der DGU bedient, in dem Kliniken die Fälle Schwerverletzter dokumentieren. Ein Ergebnis: Während in dem gesamten Zeitraum die Zahl der Verkehrstoten und Leichtverletzten zurückging, blieb die Zahl der Unfallopfer mit schwersten oder lebensbedrohlichen Verletzungen gleich, stieg teilweise sogar.
 
Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) führte in den Jahren 2007 und 2008 eine regionale aber repräsentative Untersuchung von Unfällen in Süddeutschland durch. Am Ende gelangte man zu der Überzeugung, dass etwa zehn Prozent der statistisch Schwerverletzten tatsächlich schwerste Verletzungen aufwiesen – jährlich, so die Schlussfolgerung, wären das in Deutschland etwa 7000 Menschen. Also deutlich mehr als die zuletzt weniger als 4000 Verkehrstoten.
 
An die Öffentlichkeit gelangte von all dem wenig. Nicht einmal die Tatsache, dass zwar auch Fußgänger, Radfahrer und Motorradfahrer ihren traurigen Anteil an solchen Fällen haben, die größte Gruppe mit etwa 49 Prozent aber die Insassen von Personenwagen bilden. Jenen Fahrzeugen also, deren Sicherheitstechnik immer weiter perfektioniert wird. Laut Uli Schmucker machen Airbags und vor allem Elektronische Stabilitätsprogramme (ESP) das Autofahren tatsächlich deutlich sicherer. Doch täglich geschehen eben Unfälle, bei denen die Technik ihre Grenzen erreicht. Und dabei handelt es sich nicht um ungewöhnliche Szenarien.
 
In Ländern wie Österreich, Schweden oder den Niederlanden ist man längst einen Schritt weiter und hat die Verletzungsskalen genutzt, um die Fälle wirklich lebensbedrohlich verletzter Unfallopfer zahlenmäßig zu erfassen. Laut dem Deutschen Verkehrs-Sicherheitsrat (DVR) werden dort auch die Daten der Krankenhäuser und der Polizei abgeglichen. Das, so der DVR und die DGU, soll künftig auch in Deutschland möglich sein. Allerdings will man keinen nationalen Alleingang, sondern eine europaweit einheitliche Definition. Und das kann dauern.

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