Panorama: Tuk-Tuk-Taxi in Indien – Die Bollywood-Schaukel

Was dem Italiener die Vespa und dem Holländer das Fahrrad, das ist dem Inder das Tuk-Tuk. Denn die Autorikscha, wie das Dreirad offiziell genannt wird, ist die buchstäblich tragende Säule im Nahverkehr von Städten wie Mumbai oder Delhi. Sie schleppt nicht nur Waren und Güter, ist Familienkutsche und mobiles Einkaufszentrum. Vor allem ist sie das Taxi schlechthin. Allein in Delhi gibt es über 70.000 Rikschas mit grünem Blech und gelbem Dach, ohne die es in der Stadt kaum ein Fortkommen gäbe.

Fahrende Bollywood-Schaukel

Als Passagier fühlt man sich darin ein wenig wie auf einer Hollywood-Schaukel, die hier freilich nach dem indischen Pendant Bollywood benannt wäre: Man sitzt auf einem weichen Sofa aus Kunstleder, auf dem man zumindest alleine auch wunderbar viel Platz hätte. Nur nimmt der Riksha-Kutscher freimütig bis zu drei Fahrgäste mit, so dass es hintern gerne mal ein wenig enger wird. Außerdem macht die Fahrt nur bei gutem Wetter Spaß. Denn viel mehr als ein paar Vorhänge aus Plastik, Scheiben aus Folie zum Aufwickeln und ein Stoffdach auf dünnen Metallstreben gibt es nicht zum Schutz vor Wind und Wetter und dem Monsun.[foto id=“407305″ size=“small“ position=“right“]

Vorne sitzen Männer wie S. N. Sharma, die in ihrem Kabäuschen kauern wie auf einer Vespa, von der das Dreirad vor vielen Jahrzehnten einmal abgeleitet wurde. Der Sattel ist zwar ein wenig breiter und natürlich hat er etwas mehr Blech um sich herum. Doch genau wie bei einem Motorroller greift er in einen breiten Lenker, auf dem als einziges Instrument ein winziger Tacho prangt. Sonst gibt es in seinem Cockpit nur noch das Taxameter – und jede Menge Platz für die üblichen Heiligen. Wo dem deutschen Taxler die Plakette vom St. Christophorus reichen mag, haben Sharma und seine Kollegen gleich einen halben Altar aufgebaut und fahren mit mindestens drei Schutzpatronen.

Wer nachdenkt hat verloren

Die sind auch bitter nötig. Denn ohne ein gehöriges Maß an Gottvertrauen wären Männer wie Sharma im Verkehrsgewühl von Delhi vollkommen verloren. Seinen Blick hält der Fahrer dabei stur geradeaus. Was um ihn herum geschieht, nimmt der Mittvierziger nicht einmal ansatzweise wahr: Wie ein Jugendlicher vor der Playstation starrt er nur nach vorn auf sein Ziel und lässt sich von quer schießenden Mofas, der Kakophonie vielstimmigen Dauerhupens, Fußgängern oder Lastwagen nicht beirren. Würde er auch nur eine Sekunde lang nachdenken, hätte er schon verloren. Nur wer sich auf seine Instinkte verlässt, nicht nach links oder rechts schaut und sich durch den Dauerstau schlängelt wie eine Natter durchs Unterholz, der kommt heil heraus aus diesem Verkehrschaos, das offenbar zu Indien gehört wie das Taj Mahal, die Elefanten und die heiligen Kühe.

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„Diese Stadt ist ein Hexenkessel“, sagt Sharma – und der ist nicht nur ungeheuer wild und quirlig, sondern vor allem riesig groß:  Mit 1 400 Quadratkilometern misst das Stadtgebiet fast doppelt so viel wie das von Berlin. Und statt gut drei leben dort mehr als elf Millionen Menschen. „Einmal quer durch die Stadt? Das wären 40 Kilometer“, strahlt Sharma mit dem Stolz des Lokalpatrioten und der Aussicht auf eine einträgliche Fahrt. „Wenn wir Glück haben, schaffen wir das in einer guten Stunde. Aber wenn wir Pech haben, sind wir dafür auch einen Tag unterwegs“.

Taxi im Schritttempo

Dabei braucht es gar keine Staus und Stockungen, dass einem der Weg mit dem Tuk-Tuk lang wird. Schließlich knattert unter der Rückbank nur ein winziger Einzylinder von 180 Kubik, der es auf kaum mehr als 6 PS bringt. In der Stadt fährt Sharma meist im Schritttempo und mit etwas Glück auch mal 20 oder 30 km/h. „Aber bei Vollgas schafft meine Rikscha bis zu 50 Sachen“, gerät er ins Schwärmen. Wie alle Taxen und Tuk-Tuks in Delhi fährt auch er mit Erdgas, das er in einer besseren Camping-Gasflasche direkt unter der Sitzbank für die Passagiere bunkert.

Die Konstruktion der Auto-Rikscha basiert auf der Piaggio Ape, dem fleißigen Bienchen, die Italiens Kleingewerbler in den Nachkriegsjahren mobil gemacht hat. In Lizenz gefertigt vom indischen Großkonzern Bajaj läuft sie in auf dem Subkontinent noch heute vom Band – und zwar in stattlicher Zahl. Jahr für Jahr baut Bajaj mehrere 100.000 Tuk-Tuks, die in ganz Asien im Einsatz sind.

Noch bestimmt das Tuk-Tuk das Straßenbild in Städten wie Delhi und Touristen möchten den Ritt auf der Bollywood-Schaukel nicht missen. Obwohl es weit und unbequem ist, lassen sich viele damit sogar bis hinaus zum Flughafen fahren, und mittlerweile haben es die Dreiräder sogar für Sightseeing-Touren nach Berlin oder London geschafft.

Re60: „Billigstes Auto der Welt“[foto id=“407307″ size=“small“ position=“right“]

Doch Bajaj selbst denkt so langsam einen Schritt weiter und würde das Tuktuk lieber heute als morgen ersetzen: Dafür hat das Unternehmen vor ein paar Wochen auf der AutoExpo in Delhi gerade den Re60 enthüllt, der als „Billigstes Auto der Welt“ durch die Gazetten ging. Denn viel mehr als umgerechnet 1.500 Euro soll die Autorikscha 2.0 nicht kosten, sagte ein Firmensprecher auf der Messe. Dafür gibt es nicht nur eine stabilere Karosse aus Blech und Plastik anstelle der Kunststoffvorhänge, endlich mal richtige Türen und ein richtiges Lenkrad, sondern sogar vier Räder. „Das wird ja ein richtiges Auto“, wundert sich Sharma und weiß noch nicht so recht, ob er sich darüber freuen soll. „Nachdem ich mein halbes Leben hier hinter dem Lenker verbracht habe, ist mir das Tuk-Tuk irgendwie schon ans Herz gewachsen.“

 

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