Oldtimer-Ausfahrt „London-to-Brighton“ – Gelebte Geschichte

Mille Miglia, Carrera Panamericana oder Ennstal-Klassik – Oldtimer-Ausfahrten gibt es mittlerweile viele. Doch keine ist so alt, so traditionell und so berühmt wie der Veteran Car Run von London nach Brighton. Denn zum ersten Mal ausgetragen wurde die Fahrt bereits 1896 – und danach an jedem ersten November-Wochenende eines Jahres. Selbst Kriege haben den Royal Automotive Club nicht an der Ausrichtung dieser Tour gehindert.

Beginn der modernen Verkehrswelt

Aber schließlich es gibt auf dieser rund 100 Kilometer langen Strecke in den Süden auch etwas Wichtiges zu feiern: Den endgültigen Durchbrauch des Autos und den Beginn der modernen Verkehrswelt. Das zumindest war der eigentliche Grund, weshalb am 14. November vor 114 Jahren 33 wagemutige Zeitgenossen in ihre knatternden Kisten gestiegen und nach [foto id=“331005″ size=“small“ position=“left“]Brighton gebrettert sind. Denn in der Nacht davor hatte das britische Parlament entschieden, dass Autos jetzt schneller fahren dürfen als nur Schrittgeschwindigkeit und dass sie keinen voraus laufenden Fahnenträger mehr benötigen.

Ein gewaltiges Spektakel

Was damals als spontane Aktion begann, ist mittlerweile ein gewaltiges Spektakel. Denn es werden von Jahr zu Jahr mehr Teilnehmer. Dabei dürfen nur Autos starten, die vor dem 1. Januar 1905 gebaut wurden, was den Kreis eigentlich klein genug halten sollte. Doch von den vermutlich nicht einmal 2.000 Autos aus dieser Zeit, die ihr erstes Jahrhundert funktionsfähig überlebt haben, sind in London jedes Jahr rund ein Drittel am Start: Fast 600 Motorkutschen, Dampfwagen, Dreiräder und sogar die ersten Elektroautos dieser Zeit nehmen deshalb im Morgengrauen im Hyde-Park Aufstellung und machen sich mitten im einsetzenden Alltagsverkehr auf den für diese Fahrzeuge langen und beschwerlichen Weg an den Madeira Drive des alten Seebades.

Zwar kommen die meisten Teilnehmer natürlich aus dem Königreich. Doch fast ein Viertel sind internationale Gäste – mit zum Teil ausgesprochen langer Anreise. Selbst aus Australien, Kanada und Argentinien sind Sammler mit von der Partie.  Viele von ihnen starten auf Fahrzeugen von Firmen, deren Namen man längst schon wieder vergessen hat. Natürlich gibt es mit Mercedes und Renault, Cadillac und Peugeot ein paar Hersteller, die seit den Kindertagen des Automobils dabei waren und noch [foto id=“331006″ size=“small“ position=“right“]immer im Geschäft sind. Doch Marken wie Schaudel, Thornycroft, Hotchkiss, Argyll, Rexette sind selbst eifrigen Museumsgängern nicht unbedingt bekannt.

Mit dabei ist auch Horst Schultz auf einem NSU Tricar, der neben dem Mercedes Simplex, den Formel1-Legende Jochen Maas steuert, bei der Parade auf der Regent Street ziemlich klein und verloren wirkt. Doch Schultz hat das Dreirad nicht ohne Grund ausgewählt. Denn erstens ist er als Chef des Museums AutoVision in Alt-Lußheim in der Nähe des Hockenheim-Rings Herr über eine der größten NSU-Sammlungen der Welt. Und zweitens ist er damit der Erste, der überhaupt ein Fahrzeug aus Neckarsulm zum traditionellsten Autorennen der Welt bringt. Das ist für Schultz auch eine Frage der nationalen Ehre. „Schließlich haben wir das Auto vor 125 Jahren erfunden“, sagt er stolz.

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Keine leichte Übung

Den NSU fit für das Rennen zu machen, war allerdings keine leichte Übung. „Das Fahrzeug habe ich schon relativ lange. Aber viel mehr als die Metallkonstruktion war davon nicht mehr übrig“, [foto id=“331008″ size=“small“ position=“left“]erinnert sich der Sammler. Die Lederbank, die Holzkarosse, des Körbchen anstelle des Kofferraums – alles längst vom Zahn der Zeit zerfressen.

Doch nachdem er im letzten Jahr mit einem Fremdfahrzeug schon kurz nach dem Start im Hyde-Park ausgeschieden ist, hat ihn der Rappel gepackt. „Da habe ich mich zur Restaurierung entschlossen.“ Weil es weltweit kein anderes NSU-Dreirad dieses Typs mehr gibt, war das ein schwieriges Unterfangen, erinnert sich Schultz an das wochenlange Studium von alten Fotos und Skizzen. Und es war ein teures Vergnügen.  Wie viel ihn die Restaurierung gekostet hat, will er lieber nicht verraten. „Aber für einen schönen Mittelklassewagen hätte es sicher gereicht.“

Die Arbeit hat sich gelohnt – nicht nur, weil das Tricar jetzt wieder im alten Glanz in der Regent Street steht, die Sitzbank so bequem ist wie daheim das Fernsehsofa und der Einzylinder schnurrt wie am ersten Tag. Sondern weil er bei der Suche nach wichtigen Plänen im Audi-Archiv ganz nebenbei noch eine spektakuläre Entdeckung gemacht hat:  „Das ist nicht irgendein [foto id=“331009″ size=“small“ position=“right“]Dreirad von NSU, sondern das erste seiner Art. Genau dieses Fahrzeug wurde im Frühjahr 1904 auf der Frankfurter Automobilausstellung gezeigt“,  sagt Schultz.

Zum ersten Mal vorgeführt hat er den neuen Star seiner Sammlung im September bei der Oldtimergala im Schwetzinger Schlosspark. Aber so richtig fertig geworden ist er erst vor ein paar Wochen: „Es war ein langer, steiniger Weg, dem Motor wieder Leben einzuhauchen“, schildert Horst Schultz. „Die ersten Explosionsgeräusche klangen schwer nach Herzrhythmusstörungen und ließen schon erahnen, dass die Feinjustage kein Zuckerschlecken wird“, erinnert sich der Sammler. Zwar stampft der Kolben jetzt tatsächlich wieder rund und gleichmäßig durch den knapp einen halben Liter großen Zylinder und das Knattern klingt wie Musik in den Ohren des Museumschefs. Doch für eine echte Probefahrt hat es nicht mehr gereicht. „Viel mehr als 15 oder 20 Kilometer ist das Dreirad seit seiner Wiedergeburt noch nicht gefahren“, sagt Schultz. Er ist deshalb alles andere als sicher, ob er diesmal heil nach Brighton kommt – schließlich sind das vom Hyde-Park aus exakt 97 Kilometer.

Aber zumindest beim Start sitzt er stolz wie der König von England auf einem ledernen Sattel, kaum größer als ein alter Bürostuhl und knattert voller Hoffnung und Zuversicht am Big Ben vorbei über die Themse. Dass es an diesem Morgen schon empfindlich kalt ist in London stört ihn dabei nicht. Denn das Tricar hat quasi eine Sitzheizung, meint Schultz und zeigt auf das große Messingfass in seinem Rücken. „Das ist nicht der Tank, sondern der Kühler. Schließlich war das der erste wassergekühlte [foto id=“331010″ size=“small“ position=“left“]Motor von NSU.“ Die Wärme im Rücken kann Schultz sicher gut gebrauchen. Denn mit gerade einmal vier PS und geschätzten 20 km/h wird der Weg nach Brighton eine arge Geduldsprobe.

Dummerweise muss er sich auf die nicht lange einlassen. Während Maas auf seinem Simplex ungeniert in einem Rutsch nach Brighton rollt, es sogar ein paar Dampfwagen an die Seeküste geschafft haben und auch das über 100 Jahre alte Elektro-Auto am Nachmittag über den Madeira Drive surrt, ist für den Museumschef und sein wieder auferstandenes Dreirad nach der Hälfte Schluss. So oft musste er den Riemenantrieb kürzen, dass er den Wagen am Ende doch lieber auf dem Hänger nach Brighton geschafft hat. Aber immerhin befindet sich Schultz in guter Gesellschaft: 10 bis 20 Prozent der Teilnehmer bleiben jedes Jahr auf der Strecke.

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