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Rudi Mentär: Mit der Ente unter Nudisten

Kopfschüttelnd standen die Testwagenpräparatoren von Citroën Deutschland auf dem Werksgelände in Köln-Porz, als ich an einem Hochsommertag Mitte der achtzi-ger Jahre eine mit Palmen geschmückte Reise-Ente abholte und dazu noch bat, ein gut sichtbares D-Schild in die Sahara-Landschaft am Heck zu kleben.

„Wo geht’s denn hin?“ wollte einer wissen, und ich wusste natürlich, warum die kummergewohnten Testwagenbetreuer das wissen wollten. „Bis Afrika werde ich’s nicht schaffen,“ antwortete ich, „ihr braucht keine Angst zu haben. In Marrakesch braucht ihr das Gerät nicht einzusammeln.“

Am damals noch tschechoslowakischen Grenzübergang bei Eger ergab sich ein längerer Aufenthalt. „Viel Glück“ hatten mir die deutschen Grenzer noch ge-wünscht. Sie ahnten vermutlich, was mir blühen würde. Ein halbes Dutzend teils neugieriger, teils boshafter tschechoslokawischer Grenzer filzte den Wohnaufbau der Ente so gründlich, dass sie nicht mehr zusammenbauen konnten, was sie auseinandergeschraubt hatten: Behälter für Gasflasche, Wassertank, Zweitbatterie und derlei mehr technisches Gerät in den Seitenwänden, ausklappbare Küche, Mini-Kühlschrank und Waschbecken mit Zubehör in der geteilt zu öffenden Hecktür, im kombinierten Wohn- und Schlafabteil Stauräume aller Art für Tisch und Bänke, Matratzen, Kissen, Wäsche, Kleidung und Reserverad, Werkzeugkasten und allerlei Gestrippe für etwa notwendige elektrische Verbindungen mit der Außenwelt.

Herbeigerufene Grenztruppen-Monteure erwiesen sich als ebenso ungeschickt wie die Grenzer, die mir schließlich eine Arrestzelle für Grenzstraftäter zur Übernachtung zuwiesen, und einer der Grenzer war sogar bereit, mit mir in einem Dienstwagen auf die deutsche Seite zu fahren zwecks telefonischen Hilferufs beim nächsten Citroën-Händler. Ein 20-DM-Schein hatte nachgeholfen. Zwei deutsche Monteure erschienen auch schon früh am nächsten Morgen, als ich gerade bei einer Art tschechischen Sträflingsfrühstücks saß – mit einer Flasche Bier anstelle von Kaffee –, bauten alles ordentlich zusammen, kassierten je drei Stunden Arbeitslohn plus angemessenes Trinkgeld und meinten sehr richtig, den Verlust einer abgerissenen Palmen-Folie neben der Beifahrertür würde ich wohl ertragen können. Gegen Abend lief ich mit einem Tag Verspätung in Marienbad auf, wo meine Nichte Dagmar, 16 Jahre alt und natürlich zu Hause in der DDR, in einer von ihr organisierten Privatunterkunft auf mich wartete. Wir hatten Kunst und Kultur auf dem Balkan im Reiseprogramm – neben dem Ententest.

Kunst und Kultur reduzierten sich freilich in so schönen Orten wie Marienbad, Karlsbad und sogar Prag auf ein Beiprogramm. Unsere Ente erregte so viel Aufmerksamkeit, dass sich nicht nur auf Parkplätzen, sondern auch bei Ampelstopps Menschentrauben um das Vehikel bildeten. Jeder wollte mal hineinschauen und Fragen stellen, und immer wieder erschienen Polizisten, die den Verkehrsfluss wieder herstellen mussten und uns aufforderten, möglichst schnell zu verschwinden.

In Prag gerieten wir auf der Flucht vor lauter Fragern auf den Hradschin, den Prager Burgberg und Sitz des Staatsoberhaupts. Der Staatschef und seine Mitarbeiter frei-lich machten Ferien und das Wachpersonal langweilte sich offensichtlich. So ergab sich eine längere Kaffeestunde mit unseren Bordmitteln in und vor der Ente im Burghof, die in eine Party mit viel Bier, Brot und Schinken in den Räumen der Burg-wache überging. Unsere Pässe – ein Westpass und ein Ost-Pass mit demselben Familiennamen – erregten realsozialistische Heiterkeit. Wir durften in unserer Ente direkt vor dem Waschraum der Wächter übernachten und wurden am nächsten Morgen zu einem Frühstück gebeten, das uns für den Rest des Tages satt machte. Ein Abschiedsgeschenk in Form einer Zwei-Kilo-Salami schaukelte noch tagelang am Innenspiegel der Ente.

Wir bummelten die Moldau hinauf bis an den Oberlauf nach Horní Planá, zu k.u.k.-Zeiten noch Oberplan genannt und Geburtsort Adalbert Stifters. Dagmar hatte eine speziellen Grund dafür: Sie sollte einen Schulaufsatz schreiben über Stifters sozialistische Umtriebe während der Unruhen von 1848. Immerhin war der einst weithin geschätzte österreichische Dichter und Schriftsteller Wahlmann für die österreichische Nationalversammlung gewesen. Darüber hinaus, stellte Dagmar im Stifter-Museum vor Ort fest, hatte weder der Sozialismus den Dichter noch der Dichter den Sozialismus ernsthaft erfasst, und als sie hörte, er habe so nachhaltig gesoffen, dass er seinem Leiden an der Leberzirrhose mit einem Schnitt durch die Halsschlagader ein Ende setzte, setzte sie der Beschäftigung mit ihrem Schulaufsatz ein Ende und wir beide setzten unserer Reise ein neues Ziel: Ungarn.

Freilich ließ ich mich mit unseren zwei Pässen unterschiedlicher Herkunft nicht auf die tschechoslowakisch-ungarische Grenze bei Bratislawa ein, sondern setzte Dag-mar in den Express Bratislawa-Budapest und fuhr mit der Ente problemlos über einige Kilometer österreichisches Staatsgebiet nach Ungarn. In Budapest traf ich am Bahnhof früher ein als der sogenannte Express. Die Ente kam nach den Erfahrungen von Karlsbad und Prag vorsichtshalber in eine Parkgarage und wir widmeten uns einige Tage dem Budapester Jugendstil, allerdings vorwiegend in den vielen Thermalquellen der Stadt.

Es war die Sonne, die uns schließlich in Richtung Plattensee lockte. Als wir, schon bei Dunkelheit, mit dem Suchscheinwerfer einen Wegweiser zu einem Zeltplatz entdeckten, dachten wir, richtig zu sein, fuhren in einen von hohen Wasserpflanzen gesäumten Seitenweg ein, der zu einem Zeltplatz in Ufernähe führte, auf dem uns Platzbewohner weiterwinkten über eine Brücke auf einen weiteren Zeltplatz im Buschwerk. Dort hockten junge Leute um eine kleine Feuerstelle unmittelbar am See, begrüßten uns mit Hallo und leiteten uns zu einem freien Platz zwischen zwei Dutzend Wagen der Marken Trabant, Skoda oder Lada mit DDR-Kennzeichen und teils waghalsigen Aufbauten und Hängern zwischen allerlei Zelten.

Wir waren zwischen Sachsen und Thüringern gelandet – nicht am Plattensee, son-dern am vorgelagerten kleineren Velencer See – und das Feuerchen beleuchtete eine ansehnliche Versammlung junger Leute, die mit nichts anderem als Weingläsern bekleidet waren. Dagmar saß nach wenigen Sekunden im selben Outfit dazwischen, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit einem schnellen Bad im See fit zu machen für jene sozialistische Nudistenkultur, die noch heute jeden Ossi ergreift, sobald er mehr Wasser sieht als einen Gartenteich.

In der Nacht geschah die unter den gegebenen Umständen schlimmstmögliche Katastrophe. Glück im Unglück war lediglich, dass der Täter nicht zu ermitteln war und folglich Schuldzuweisungen sinnlos waren. Vom Wein leicht berauscht hatten Dagmar und ich vergessen, den Wasserhahn in der Hecktür zu arretieren, und so konnte es nicht ausbleiben, dass entweder einer ihrer oder einer meiner großen Zehen im Schlaf den Hahn auf „Wasser marsch“ umlegte. Annähernd 20 Liter Wasser fanden so unbemerkt den Weg in die Matratzen und machten sie für etliche Tage unbrauchbar. Wir merkten das erst, als uns bei Tagesbeginn heftiges Klopfen an unserer Ente weckte und eine unverkennbar sächsische Stimme meldete: „Ihr looft aus“.

Hoch zu preisen ist die spontane Hilfsbereitschaft der realsozialistischen Nudisten-community vom Velencer See, die sich hier alljährlich in mehr oder weniger gleicher Zusammensetzung im Hochsommer einfand. Jeder half uns, das überwiegend nass gewordene Interieur der Ente zu bergen, der sogar das Wasser aus Fahrer- und Beifahrersitz troff. Handwerklich Begabte kümmerten sich um Versorgungsfragen. Einer griff sich den leeren Wassertank und fuhr zum nächsten Bauern zum Wasserholen, das er gleich mit dem Weinholen für den Abend verband. Technisch versierte Nackedeis prüften die elektrische Anlage durch und stellten fest, dass alles funktionierte. Die Damen sorgten dafür, dass alles, was getrocknet werden musste, einen Platz an der Sonne bekam. Die Matratzen erhielten den Ehrenplatz auf dem Entendach.

Natürlich stellten die Mädel fest, dass die ausklappbare Entenküche endlich den begehrten Kaffee für die Kaffeesachsen liefern konnte, und der weibliche Sachsen-nachwuchs erledigte das eine Kilo West-Kaffee aus dem Entenvorrat an einem Tag. Auch die Brauchbarkeit des Waschbeckens mitsamt Kippspiegel hatten die Damen schnell entdeckt, obwohl sie nichts an sich hatten, was einer Bespiegelung bedurfte, vielleicht abgesehen von etwas Lippenstift. Besondere Verdienste um unseren weiteren Verbleib erwarb sich der von mir mit D-Mark ausgerüstete Chefeinkäufer der Community. Er besorgte Dagmar und mir aus dem nächsten Textilladen ordentliche Schlafsäcke, damit wir wie die meisten Damen und Herren der Truppe die Nächte sternenbeleuchtet unter freiem Himmel zubringen konnten.

Am dritten Tag war zu erkennen, dass unsere Matratzen noch einige Tage kräftiger Sonneneinstrahlung bedurften, bevor wir weiterfahren konnten. Wir waren nicht enttäuscht, denn sogar ich war inzwischen voll in die Ost-Gruppe integriert worden, nachdem sie den Verdacht aufgegeben hatten, es könne sich bei mir vielleicht doch um eine besonders raffinierte Form von Stasi-Zuträger handeln. So ergaben sich statt Kunst und Kultur für den Rest unserer Reise zwei völlig unbeschwerte Wochen mit stundenlangem täglichen Aufenthalt im Wasser, gemeinsamem Kochen oder Grillen am offenen Feuer mit Rühreibeigaben aus den Pfanne des Entenkochers und abendlichen Diskussionen über Gott und die Welt aus sehr verschiedenen und nur zum geringen Teil sozialistischem Blickwinkel.

Zum Abschied gab es kleine Rundfahrten mit der Ente für alle unsere neuen Bekannten, die ich zum Teil erst bei dieser Gelegenheit notdürftig bekleidet sah. Ich brachte Dagmar nach Budapest zum Bahnhof, tankte meine Ente auf, schenkte Dagmar mein restliches Geld und machte mich bargeldlos auf den Weg zur österreichischen Grenze bei Ödenburg. Kurz vor Ödenburg geriet ich in eine hier heimtückisch aufgebaute Geschwindigkeitskontrolle, weil die Ente wohl mit 80 km/h statt der erlaubten 50 km/h unterwegs gewesen war und sollte zahlen, möglichst in D-Mark oder Schilling. Ich konnte nur mein völlig leeres Portemonnaie vorweisen und erklären, das Malheur tue mir sehr leid. Nachdem klar war, dass bei mir nichts zu holen war, schenkte mir der Polizist ein paar Forint aus seiner Kasse mit der Bemerkung, dafür könne ich mir wenigstens auf dem Markt in Ödenburg eine Melone zum Überleben kaufen. Ich folgte dem Rat und schaffte es auf der Weiterfahrt nach Köln nicht, die Melone aus dem Fußraum vor dem Beifahrersitz zu befreien. So blieb sie in fortgeschrittenem Erhaltungszustand für die Testwagenbetreuer in Köln erhalten.

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