eCall: Der große Brunder auf dem Beifahrersitz

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Die Zahlen sind wahrhaft erschreckend: Die Bevölkerung einer ganzen Kleinstadt – mehr als 31 000 Menschen – lässt jedes Jahr in Europa ihr Leben im Straßenverkehr. Mindestens 2500 von ihnen könnten noch leben, wenn Rettungskräfte rechtzeitig am Unfallort eingetroffen wären, schätzen Experten.

Bereits vor zehn Jahren brachte deshalb die EU-Kommission eCall auf den Weg, ein elektronisches Notrufsystem im Auto. Bei einem schweren Unfall stellt es automatisch eine Telefonverbindung mit einer Rettungsleitstelle her und meldet den Standort sowie die Fahrrichtung des Autos – wichtig bei Crashs auf der Autobahn.

Eigentlich sollte eCall ab Oktober 2015 in allen neuen Personenwagen und leichten Nutzfahrzeugen verbindlich installiert sein, vorausgesetzt, alle EU-Staaten und das Europaparlament stimmen zu. Spätestens 2033 wären dann alle europäischen Autos bis auf mehr als 18 Jahre alte Oldies mit eCall versorgt.

Doch so schnell schießen weder die 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union, noch die 736 Abgeordneten in Straßburg. Auch der Bundesrat in Berlin meldete am 20. September in seiner letzten Sitzung vor der Bundestagswahl Bedenken an. Und das mit gutem Grund: Die Risiken und Nebenwirkungen des von Weitem betrachtet vernünftigen Vorschlags sind bei näherem Hinsehen erheblich. Und wer das Ganze bezahlen soll, weiß auch noch niemand.

Datenschützer befürchten ein wahres Horror-Szenario an Überwachungsmöglichkeiten aller Autofahrer, passend zur derzeitigen weltweiten Schnüffelwut amerikanischer Geheimdienste. Im Extremfall nämlich wäre jeder im Auto nicht nur auf Schritt und Tritt verfolgbar, außerdem könnten Tempo, Fahrweise, Unfallsituation und sogar Verkehrssünden gespeichert oder die Verkehrstüchtigkeit des Fahrzeugs registriert werden. Sogar die Kosten für die Pkw-Maut wären simpel zu berechnen. Was auf den ersten Blick wie ein Instrument aus dem Schreckenskabinett eines totalitären Überwachungsstaats aussieht ist, gehört in Teilen längst zur Realität auf europäischen Straßen.

Schon heute gibt es eine Art eCall auf freiwilliger Basis bei Premium-Marken wie beispielsweise BMW, Audi oder Mercedes. BMW nennt sein System „Connected Drive“, eine Art überdimensionales Smartphone mit dem Kunden ihr Fahrzeug ausstatten und gegen Gebühr mit zahlreichen Apps versorgen können. Im Gegenzug sammelt BMW wichtige Daten. Stefan Rausch, Leiter der Unfallforschung bei BMW nennt die Infos, die das Unternehmen bei einem Unglück eines BMW-Fahrers erhält: „Das eine ist die GPS-Position, um wirklich genau zu sehen, wie ist der Unfall passiert. Das zweite sind die Fahrzeugdaten und das dritte sind dann die Unfalldaten. Wir wissen, ob die Airbags ausgelöst haben und ob die Sicherheitsgurte getragen wurden.“ Und wenn es einmal gekracht hat, kann der Automobilhersteller seinen Kunden zur nächstgelegenen Vertragswerkstatt zur Reparatur lotsen, freie Betriebe hätten das Nachsehen.

Im Prinzip kann jeder gute Bordcomputer mit GPS-Navigation sämtliche Fahrzeugdaten von Relevanz erfassen und übermitteln: Lenkbewegungen, Geschwindigkeit, Zahl der Insassen, Zustand des Wagens und vieles mehr. Verständlich, dass ein möglicher Zugriff auf diese Daten große Begehrlichkeiten weckt. Beispielsweise bei der Versicherungswirtschaft, die damit ihre Kalkulation auf eine völlig neue Basis stellen könnte. Allianz Telematics, eine Tochtergesellschaft des Münchner Versicherungskonzerns, installierte bislang in mehr als 80 000 Fahrzeugen in neun europäischen Ländern elektronische Fahrtschreiber. Der speichert Wegstrecke und Tageszeit der Fahrt und sendet die Daten an die Versicherung. „Wer beispielsweise nachts oder am Wochenende nicht fährt“, erzählte Allianz-Telematics-Chef Jacques Amselem dem Magazin „Technology Review“, einer Zeitschrift des Massachusetts Institute of Technology, „kann einen Rabatt bekommen, weil zu diesen Zeiten das Unfallrisiko höher ist. Einheitstarife wie bisher wird es nicht mehr geben.

In den USA sind solche Tarife längst ein alter Hut, in Italien müssen die Versicherer mindestens einen Telematik-Tarif anbieten, und in der Schweiz können Fahranfänger einen elektronischen Fahrtschreiber von der Winterthur-Versicherung kostenlos bekommen . Im Gegenzug erhalten sie 15 Prozent Rabatt auf die Versicherungsprämie. Auch der Fahrstil könnte die Prämienhöhe beeinflussen. Die Deutsche Telekom und Vodafon haben die Daten von Kilometerstand, Brems- und Beschleunigungsverhalten sowie die Tageszeit der Fahrt im Angebot.

Zwar schwört die EU-Kommission, dass für solche Daten das eCall-System nicht eingesetzt werden dürfe. Im gleichen Atemzug aber heißt es: „Die verbindliche Ausstattung von Fahrzeugen mit dem bordeigenen eCall-System sollte das Recht aller Interessenträger, zum Beispiel von Fahrzeugherstellern und unabhängigen Anbietern unberührt lassen, Dienste mit Zusatznutzen parallel oder aufbauend auf dem bordeigenen eCall-System anzubieten.“

Das geht dem deutschen Bundesrat erheblich zu weit. In der geplanten Verordnung müsse unbedingt festgelegt werden, welche personenbezogenen Daten beim Auslösen eines Alarms von eCall an wen übermittelt würden. Außerdem müsse genau definiert werden, welche erweiterten Informationen in die Hände von privaten Dienstanbietern gelangen dürften.

In der Drucksache 520/13 vom 20. September 2013 heißt es wörtlich: „Aus Sicht des Bundesrates ist es zudem erforderlich, dass der Industrie bei der Einführung des eCall-Systems ausreichend Vorlaufzeit für die Entwicklung und den Test der neuen Systeme in den Fahrzeugen gegeben wird. Dafür sind ab Vorlage der detaillierten Umsetzungsvorschriften seitens der Kommission mindestens drei Jahre erforderlich.“ Grundsätzlich begrüßt der Bundesrat „das mit dem Verordnungsvorschlag verfolgte Ziel der Kommission, die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr zu verringern“. Doch viel lieber wäre ihm ein eCall-System auf freiwilliger Basis: „Gegenüber der verbindlichen Einführung des automatischen eCall-Notrufsystems in Neufahrzeugen ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine freiwillige Nutzungsoption vorzuziehen.“

Dann wäre auch der Datenschutz weitgehend aus dem Schneider. Freiwillige Teilnehmer sollten schließlich wissen, worauf sie sich einlassen.

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