Autos für Russland – Go East

Juri Alexejewitsch hat seine Kalina geliebt – am Anfang. Dann hat er sie jahrelang gepflegt. „Aber ich glaube, sie lässt mich bald endgültig im Stich“, sagt der grauhaarige korpulente Mitfünfziger auf dem Bürgersteig der Twerskaja Straße – und versetzt Kalina einen Tritt. Die Liebe ist vorbei zum kleinen Lada Kalina; der russische Marktführer unter den Pkw bleibt alle paar Wochen unvermittelt einfach stehen, schimpft Juri. Irgendetwas mit der Elektrik; der Lada-Werkstattleiter murmele bloß: „kommt öfter vor“.

Auch darum treffe ich Juri, als er gerade aus dem Showroom eines Hyundai-Händlers gleich um die Ecke vom Kreml im Zentrum Moskaus kommt. Der Angestellte will sich hier einmal den Solaris anschauen, eine Limousine der unteren Mittelklasse, die die Koreaner in einem neuen Werk bei St. Petersburg bauen lassen. Made in Russia, Made for Russia. Nicht nur Hyundai wittert ein großes Geschäft mit kleineren Autos. Denn 10.000 Euro für ein 4,3 Meter langes Auto – nicht mal ein Jahresgehalt. Das kann sich Juri leisten. Und darum wirbt nicht allein Hyundai um seine Sehnsucht nach einem „richtigen Auto“. Eine Sehnsucht, so groß wie Sibirien.

Nur 277 Autos kommen hier auf 1.000 Einwohner, referiert Volkswagens Russlandchef Marcus Osegowitch aktuelle Marktforschungszahlen – rund 170 davon haben schon mehr als sieben Jahre auf dem Buckel. Und dazu viel Rost, gebrochene Stoßdämpfer, kein ABS, keine Airbags, keinen Komfort. Autofahren heißt für die Normal-Russen: Entbehrung. Und davon hat nicht nur Juri die Nase voll. 15.000 Euro umgerechnet verdient der Moskauer jährlich. Sieben Millionen weitere Russen erhalten sogar schon mehr als 50.000 Euro im Jahr.

Auch VW oder Ford würden Männern wie Juri darum gern einen Nachfolger für den acht Jahre alten Lada verkaufen. Und ihre Chancen stehen nicht schlecht. Denn „gutes Auto“, das heißt oft „deutsches Auto“ – Moskaus Innenstadt-Straßen zeigen es: Kaum irgendwo ist die Dichte an S-Klassen, Porsche Cayenne, Audi R8 oder gepanzerten BMW so groß wie rund um den Roten Platz. Die Oligarchen, die Mafiosi, die Staatslenker, sie lieben schon lange die rollenden Statussymbole aus Germanija.

Große Plakate überall in der 12-Millionen-Metropole werben nun auch um die Gunst der wachsenden Mittelschicht. VW etwa zeigt da seinen Polo Sedan. Der Rucksack-Kleinwagen kostet nicht einmal 10.000 – und bietet fünf Personen mit Gepäck Platz. Zumindest nach den Maßstäben eines bisherigen Kalina-Kunden. Und die sollen nach dem festen Willen von VW-Produktionsvorstand Michael Macht bald immer öfter auf Produkte des Volkswagen-Konzerns umsteigen. Vor allem solchen Made in Russia.

150 Kilometer vor Moskau bauen 5.700 VW-Werker in Kaluga bereits 670 Polo Sedan, Tiguan, Skoda Fabia und Octavia pro Tag – und kurz vor Beginn der Automesse Moskau hat Macht den Bau eines neuen Motorenwerks in Kaluga verkündet. 250 Millionen Euro investieren die Wolfsburger dort in eine Fabrik, die ab 2015 jährlich 150.000 der neuesten 1,6-Liter-Motoren herstellen soll. Doch dabei bleibt es nicht, so Macht; „Wir wollen bis 2018 rund 500.000 Einheiten in Russland verkaufen.“

Weitere 750 Millionen investieren die Wolfsburger deshalb bis dahin in Russland, um modernste Fertigungen, Showrooms und Werkstätten zu errichten. Denn inzwischen geht auch der Trend der russischen Mittelschicht klar zu Autos, die westlichen Qualitätsmaßstäben entsprechen. Das hat bereits der Produzent der zu Sowjetzeiten ruhmreichen Funktionärs-Limousine Wolga unsanft erkannt. Die GAZ Group in Nischni Nowgorod musste Ende 2010 die Pkw-Produktion mangels Nachfrage ganz stilllegen.

Doch inzwischen arbeitet man wieder: Der Skoda Yeti läuft nun von den einstigen Wolga-Bändern – und VW Jetta sowie Skoda Octavia kommen noch hinzu. So ist Volkswagen inzwischen der größte ausländische Produzent von Pkw – und wächst derzeit um fast 60 Prozent im Vorjahresvergleich. Konzernchef Martin Winterkorn am Abend vor der Messe: „Wir wollen ein Teil Russlands sein – und streben 2018 hier rund 500.000 Verkäufe an.“

Das zweitbeliebteste Auto der Russen ist indes noch ein Renault – na ja, für Juri und seine Landsleute trägt er zumindest das französische Rautensymbol: Deutsche Autofahrer kennen den Logan eher als Dacia. Dieses Einfach-Auto mit dem Charme eines Legosteins hatte Anfang des Jahrzehnts den Aufbruch der Rumänentochter gestartet. In Russland rollt der Logan noch immer. Und Ende 2012 ist Renault ohnehin die Nummer Eins im größten Land der Erde. Denn dann übernehmen Renault und Nissan die Mehrheit bei AvtoVAZ, dem Hersteller von Juris Kalina.

So richtig Goldgräberstimmung wird aber erst im kommenden Jahr auf dem russischen Automarkt aufkommen. Denn gerade ist Russland der Welthandelsorganisation beigetreten. Nun purzeln die Einfuhrzölle von derzeit noch 30 Prozent. Und Marktforscher wie BDW Automotive prophezeien, dass Russland mit seinen 143 Millionen Einwohnern schon bald Deutschland als größten Automarkt in Europa überholt. Für den VW-Chef Winterkorn ist das „spätestens in sechs Jahren so weit“.

Das Straßenbild rund um die Moskauer City bestimmen die westlichen Fabrikate schon lange deutlich. Denn den Luxusmarkt haben vor allem deutsche Hersteller fest in ihrer Hand.

BMW hat den Absatz 2011 je nach Modell um bis zu 40 Prozent gesteigert, Audi um 37 Prozent. A6, A8 und der große Geländewagen Q7 sind überall in Moskau zu sehen – aber auch der für russische Straßen nur bedingt taugliche R8. Dessen Facelift feiert auf dem Moskauer Salon in diesen Tagen Weltpremiere. Und auch Mercedes gibt Gas: 2011 betrug der Zuwachs 27,6 Prozent, GLK und E-Klasse laufen super.

Aber auch Renaults Schwester Nissan verkauft ebenfalls mehr als 60.000 Fahrzeuge pro Jahr – nirgends in Europa sind es mehr. Und neben Hyundai und Kia legt auch der weltgrößte Hersteller General Motors kräftig zu. Bald sollen auch Astra der Tochtermarke Opel in Russland gebaut werden – und das ausgerechnet jetzt, wo die Rüsselsheimer in Deutschland ums Überleben hiesiger Werke kämpfen.

Für den neuen Astra-Stufenheck übrigens interessiert sich auch Juri. Und dass in Deutschland mangels Nachfrage bei Opel kurzgearbeitet werden muss, kann der Moskauer nicht verstehen: „Das sind doch wunderschöne Autos. Sehr deutsch.“ Vielleicht liest das ja jemand in Detroit.

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